Mit gemischten Gefühlen, dennoch erwartungsvoll und neugierig, starteten sieben Mitglieder des Vereins „Runder Tisch Holzminden – Hilfe für Weißrussland” gen Osten. Von Beginn der neunziger Jahre – initiiert damals von Pastor Drosselmeyer und unterstützt vom TAH – bis in das Jahr 1997 rollten Hilfsgütertransporte in die 30.000-Einwohnerstadt Dzerzinsk, 40 Kilometer südlich der Landeshauptstadt Minsk. Gestoppt wurden sie durch restriktive Änderungen der Grenz- und Zollbestimmungen. Und weil die Garantie, die Hilfsgüter selbst zu verteilen, nicht mehr gegeben werden konnte.
Mit Gründung des gemeinnützigen Vereins im Jahr 2001 änderte sich deshalb die Zielsetzung des „Runden Tisches“. Im Mittelpunkt standen jetzt berufliche Praktika und die Kontaktpflege mit medizinischen, pflegerischen, kulturellen, pädagogischen und wirtschaftlichen Einrichtungen.
Die Grenzformalitäten an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt/Oder verliefen diesmal ohne Probleme. Der für Mai 2004 vorgesehene Beitritt Polens in die EU war nicht nur an den gehissten Europafahnen erkennbar, sondern auch an einer freundlich-korrekten Grenzabfertigung. Kleinere Probleme dagegen gab es aber – wie üblich – an der weißrussischen Grenze. Die Weiterfahrt über Brest nach Dzerzinsk brachte einen ersten positiven Eindruck, die Holperstrecke war einer neuen Autobahn gewichen. Überhaupt: die infrastrukturellen Maßnahmen, insbesondere des Straßen- und Wohnungsbaus, gerade auch in Dzerzinsk, waren unübersehbar. Der Empfang am späten Abend durch die seit vielen Jahren nicht mehr gesehenen Dzerzinsker Freunde war überschwänglich und herzlich.
SOS-Kinderdorf Borowljany
Der folgende Tag war geprägt von dem Besuch des SOS-Kinderdorfes Borowljany, in der Nähe von Minsk gelegen. Leiter des 1995 als erstes in Belarus errichteten SOS-Kinderdorfes ist Valery Mikhalevich, der zuvor als Deutsch- und Sportlehrer am Gymnasium in Dzerzinsk tätig war und den Holzmindenern seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden ist. Fast 100 Waisenkinder und verlassene Kinder im Alter von etwa vier bis 16 Jahren finden hier ein neues Zuhause, leben in Gruppen von sechs bis acht Kindern mit ihrer Kinderdorfmutter wie in einer richtigen Familie zusammen, besuchen die Schule und bekommen Besuch von Freunden. Gab es vor sieben Jahren in Belarus etwa 13.000 Waisen und verlassene Kinder, sind es heute bereits 30.000 Kinder, die ohne eine Familie aufwachsen müssen.
Ein weiteres Projekt innerhalb des Dorfes ist das SOS-Sozialzentrum, das für die Gesundung der Kinder aus kinderreichen Familien der strahlenverseuchten Regionen Weißrusslands und für die soziale Rehabilitation krebskranker Kinder sorgt. In den drei Jahren des Bestehens der Einrichtung konnten bereits über 1.000 Kinder betreut werden, die zunächst in der benachbarten Krebsklinik ärztlich behandelt wurden. Das Dorf ist auf Geld- und Sachspenden angewiesen. Die Holzmindener hoffen, einen Austausch mit vergleichbaren Einrichtungen in unserer Region zu organisieren. Ursula Günther erlebte die große Freude, ihr SOS-Kinderdorf-Patenkind in Borowljany in die Arme zu nehmen. Ein nachahmenswertes Beispiel konkreter Hilfe!
Medizin
Seit über zehn Jahren organisiert der „Runde Tisch“ die medizinischen Praktika weißrussischer Ärztinnen und Ärzte. Grund genug, dem Dzerzinsker Krankenhaus einen Besuch abzustatten und Gespräche mit den bisher nach Holzminden eingeladenen Gastärzten zu führen. Das 225-Betten-Haus in Dzerzinsk ist als einziges Krankenhaus für den Landkreis zuständig. Die Versorgung mit Medikamenten ist nach Angaben des Chefarztes zwar kein Problem, allerdings erschien die Bevorratung auf den Stationen spartanisch. Infusionsflaschen waren teilweise nur halbgefüllt, große Engpässe gibt es bei Verbrauchsgütern, wie Verbandsmaterial, Spritzen. Hier wurde deutliche Hilfe erbeten.
Die in den vergangenen Jahren aus Holzminden gespendeten medizinischen Geräte sind vollständig im Einsatz. Eine selbst finanzierte, moderne Zahnstation mit vier Behandlungsstühlen gibt es ebenfalls. Die Gastärzte beurteilten ihren Aufenthalt im Holzmindener Krankenhaus als sehr positiv, haben beruflich davon profitiert. Alle Hospitanten haben die gute Unterbringung im Schwesternwohnheim des Krankenhauses gelobt. Gewünscht werden weitere Berufspraktika – soweit die Spendenmittel von etwa 2.000 Euro pro Teilnehmer für drei Monate ausreichen. Künftige Praktikanten sollen zuvor an Deutschkursen der Medizinischen Hochschule Minsk teilnehmen. Die über zwei Jahre laufenden Kurse kosten etwa 25 Euro pro Person und Halbjahr, sechs Stunden pro Woche wird unterrichtet.
Wirtschaft
Die in der Internationalen Bildungs- und Begegnungstätte (IBB) in Minsk geführten Wirtschafts-Gespräche waren aufschlussreich, da zudem die Gelegenheit bestand, im Rahmen der weißrussisch-deutschen Woche an einem Mittelstandskongress im Beisein des deutschen Botschafters in Weißrussland teilzunehmen. Hauptproblem der weißrussischen Wirtschaft ist die nach wie vor hohe Inflation mit einem Monatsdurchschnitt von 2,4 Prozent, das Fehlen notwendiger wirtschaftspolitischer Reformen und der mangelnde Mut, Privatisierungen in der Wirtschaft zu fördern. Die wichtige landwirtschaftliche Produktion entwickelt sich rückläufig. Der notwendige Strukturwandel vollzieht sich nur schleppend, die ausländischen Investitionen bleiben sowohl hinter den Erwartungen, aber auch hinter dem Bedarf zurück. Ursache dafür ist die bestehende Rechtsunsicherheit, da gesetzliche Regelungen häufig per Dekret und dann auch noch rückwirkend geändert werden.
Dennoch zeigen sich flexible private Unternehmungen aus dem Holz verarbeitenden und Baubereich, der Fahrzeugtechnik, der Wasseraufbereitung und auch des Handels. Die Hilfe des „Runden Tisches“ wird darin bestehen, Kontakte zu in Weißrussland, insbesondere in Minsk, bestehenden Organisationen, wie der Außenhandelskammer, dem weißrussischen Arbeitgeberverband und dem bestehenden Deutschen Wirtschaftsclub herzustellen. Ein konkretes Projekt kann auch die Organisation eines gemeinschaftlichen Einkaufs von Materialien weißrussischer Unternehmen bei deutschen Lieferanten sein. Festzustellen ist, dass sich die zarten Pflänzchen von einst in manchen Bereichen durchaus positiv entwickelt haben.
Soziales
Schon vor der Fahrt nach Dzerzinsk war vereinbart worden, dass sich ein Teil der Reisegruppe mit den sozialen Gegebenheiten in Dzerzinsk befasst. Mit Michail Aleksandrowitsch stand den Holzmindenern als leitender Beamter der Kommunalverwaltung ein kompetenter Gesprächspartner gegenüber. Es stellte sich schnell heraus, dass die Sozialsysteme beider Länder nicht vergleichbar sind. Auf staatliche Anordnung existiert seit 1999 in jedem Landkreis der Republik eine „Sozialstation“. In Dzerzinsk sind 16 Mitarbeiterinnen beschäftigt, die die Familien- und Jugendhilfe, Alten- und Krankenhilfe organisieren. Dies beinhaltet auch Reha-Maßnahmen bei behinderten Kindern sowie die Verteilung von humanitären Hilfsgütern in der Region.
All diese Aufgaben werden ausschließlich von der Sozialstation wahrgenommen, es gibt keine Selbsthilfevereinigungen, freien Wohlfahrtsverbände, niedergelassene Ärzte und Therapeuten. Nach deutschem Verständnis hat eine derartige soziale Versorgung der Bevölkerung nicht einmal eine Feigenblattfunktion.
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Alkoholismus durch die Arbeit der Sozialstation. Die Dzerzinsker planen eine Kampagne auf regionaler Ebene, die an den Schulen in den Unterricht eingebunden, durch ein Theaterstück sowie über Informationen der Tageszeitung verbreitet werden soll. Ziel ist die Bildung von Selbsthilfegruppen. Hier konnten einige Anregungen gegeben werden.
Kultur
Der Besuch der Kunstschule, die in der Vergangenheit immer vom „Runden Tisch“ unterstützt wurde, war eindrucksvoll, präsentierte der künstlerische Leiter, Vladimir Tschirpin, doch stolz die in der Vergangenheit errungenen Preise und Medaillen. Durchschnittlich 20 Jugendliche besuchen die Kunstschule täglich, der Unterricht wird von den Schülern bezahlt. Die staatlichen Zuschüsse sind nicht mehr als der Tropfen auf den heißen Stein. Gemeinsam mit der Kunstschule startet der „Runde Tisch“ deshalb eine Aktion: Die Kunstschule hat der Holzmindener Delegation rund 100 Arbeiten der Schüler mitgegeben, die im Rahmen einer Ausstellung voraussichtlich in Holzminden gezeigt und verkauft werden sollen, der Erlös fließt der Kunstschule in Dzerzinsk zu, die damit einen dringend notwendigen weiteren Raum errichten möchte.
Die Gespräche mit Vertretern der orthodoxen wie auch der katholischen Kirche machten deutlich, dass Kirche und Religion nicht mehr tabuisiert werden. Zahlreiche Menschen besuchen den sonntäglichen Gottesdienst und nehmen am Gemeindeleben teil. Auch hier gibt es Ansätze und Gedanken einer möglichen Zusammenarbeit.
Fußball
Unmittelbar vor der Heimreise nach Holzminden traten zwei aktive Fußballer an uns heran, die gerne Kontakt zu Fußballfreunden im Kreis Holzminden knüpfen möchten. Dimitry und Maxim vom Fußballclub „Livadia“ in Dzerzinsk verfügen über die email-Adresse DM2003@ mail.ru und würden sich über eine Nachricht mächtig freuen.
Die Rückfahrt brachte einen weiteren Höhepunkt: Die Fahrtteilnehmer waren zum Abendessen in der Botschaftsresidenz des stellvertretenden amerikanischen Botschafters in Polen eingeladen worden. Im Beisein des stellvertretenden deutschen Botschafters in Polen wurden die frischen Eindrücke aus Weißrussland reflektiert und ein grundsätzlicher Meinungsaustausch zur Situation Osteuropas geführt.
Ein ganz besonderer Dank gilt dem Holzmindener Bauunternehmen Dr. Rudolf Schoppe, das den Reiseteilnehmern einen VW-Bulli für die Fahrt zur Verfügung gestellt hat.
Sicher wird das ein oder andere Projekt verwirklicht werden können, sofern der gemeinnützige Verein „Runder Tisch Holzminden – Hilfe für Weißrußland“ Spenden erhält, die zweckgebunden verwendet werden. Die Konto-Nummer des Vereins lautet: Nr. 4011557 bei der Sparkasse Weserbergland, BLZ 24550110. Der Verein ist darüber hinaus offen für jeden, der sich für die Probleme dieses jungen Landes im Osten Europas interessiert. Der Vorsitzende, Dr. Cord Manegold, und alle Mitglieder des Vereins stehen als Ansprechpartner gern zur Verfügung.